14.02.08

Exercices

es darf vorausgesetzt werden, dass das wort "der herd des weltkriegs", seit es diesen gegenstand gibt, zwar oft benutzt worden ist, stets jedoch mit einer gewissen ungenauigkeit in der frage, wo dieser gegenstand seinen platz habe. ältere leute, die noch persönliche erinnerungen an jene zeit besitzen, denken da wohl an sarajewo, doch fühlen sie selbst, dass diese kleine bosnische stadt bloss das ofenloch gewesen sein kann, durch das der wind einfuhr. gebildete leute werden ihre gedanken auf die politischen knotenpunkte und welthauptstädte richten. noch höher gebildete dürften mit sicherheit ausserdem die namen von essen, creuzot, pilsen und der übrigen zentren der waffenindustrie im gedächtnis haben. und ganz gebildete werden dem etwas aus der petroleum-, kali- und sonstigen gütergeographie hinzufügen, denn so hat man es oft gelesen.

aus all dem folgt aber bloss, dass der herd des weltkriegs kein gewöhnlicher herd gewesen ist, denn er stand an mehreren orten gleichzeitig. vielleicht sagt man darauf, dass dieses wort bloss bildlich zu verstehen sei. aber dem ist in so voller weise zuzustimmen, dass sich alsbald noch viel grössere verlegenheiten daraus ergeben. denn gesetzt nun, es wolle herd in seiner bildlichkeit ungefähr das gleiche bedeuten, wie ursprung oder ursache ohne solche, so weiss man zwar, dass der ursprung aller dinge und geschehnisse gott ist, aber andererseits hat man nichts davon. denn mit den ursprüngen und ursachen ist es so bestellt, wie wenn einer seine eltern suchen geht: zunächst hat er zwei, und das ist unbezweifelbar; bei den grosseltern aber sind es schon zwei zum quadrat, bei den urgrosseltern zwei zur dritten und so fort in einer sich mächtig öffnenden reihe, die sich nirgends bezweifeln lässt, aber das merkwürdige ergebnis hat, dass es am ursprung der zeiten schon eine fast unendliche unzahl von menschen bloss zu dem zweck gegeben haben müsste, einen einzigen der heutigen hervorzubringen. wenn das auch schmeichelhaft ist und der bedeutung entspricht, die der einzelne in sich fühlt, so rechnet man heute doch zu genau, als dass man es glauben könnte.

schweren herzens muss man also auf seine persönliche ahnenreihe verzichten und annehmen, dass man "ab irgendwo" gruppenweise gemeinsam abstamme. und das hat verschiedene folgen. so die, dass die menschen sich teils für "brüder" halten, teils für "fremdstämmlinge", ohne dass einer diese grenze zu bestimmen wüsste, denn das, was man nation und rasse nennt, sind ergebnisse und keine ursachen. eine andere folge, nicht minder einflussreich, wenn sie auch nicht so offen zu tage liegt, ist die, dass der herr beliebig nicht mehr weiss, wo er seine ursache hat; er fühlt sich infolgedessen wie ein abgeschnittener faden, den die fleissige nadel des lebens haltlos aus- und einzieht, weil man vergessen hat, ihm einen knopf zu machen. eine dritte, jetzt erst aufdämmernde, zum beispiel die, dass man noch nicht nachgerechnet hat, ob und inwieweit es den herrn ebenso-beliebig doppelt und mehrfach gibt; im bereich des erblich möglichen liegt das durchaus, bloss weiss man nicht, wie gross die wahrscheinlichkeit ist, dass es einem wirklich widerfahren könnte, sich selbst zu begegnen, aber ein dumpfer druck davon, dass es bei der heutigen natur des menschen nicht ganz ausgeschlossen sein kann, liegt sozusagen in der luft. und sicher wäre es nicht einmal das schlimmste.

graf leinsdorf, der einen augenblick mit ulrich sprach, erging sich über die adelige einrichtung der kammerherrn. "sechzehn adelige ahnen muss ein kämmerer haben, und darüber halten sich die leute auf, dass das eine arroganz sein soll: aber ich bitt sie, was tun denn die leute selber? nachmachen tun's uns mit ihren rassetheorien" erläuterte er "und übertreiben das gleich in einer ganz und gar unvornehmen weise. meinethalben können wir alle vom gleichen adam abstammen, ein leinsdorf bleibt trotzdem ein leinsdorf, denn das ist lang nicht so sehr eine sache des bluts wie eine der bildung!" seine erlaucht war gereitzt durch das eindringen völkischer elemente in die parallelaktion, das man aus verschiedenen rücksichten bis zu einem gewissen grad dulden musste. der nationalismus war damals bereits nahe daran seine erste blutige blüte zu treiben, aber kein mensch wusste es, denn er sah trotz der nahen erfüllung noch nicht fürchterlich, sondern erst lächerlich aus; sein geistiges anlitz bestand in der hauptsache aus büchern, die mit der fleissigen belesenheit eines gelehrten und der vollen wahllosigkeit des ungeschulten denkens von verfassern zusammengestellt wurden, die irgendwo am land als volksschullehrer oder kleine zollbeamte lebten.

diese auffassung, die man heute fast schon eine natürliche nennen darf, sieht fatalistisch aus, ist es aber nur solange man sie als ein fatum hinnimmt. ein fatum waren aber auch die naturgesetze, ehe man sie erforschte; nachdem dies geschehen war, ist es sogar gelungen, ihnen eine technik überzustülpen. heute fühlt jeder mensch etwas davon, dass diese gesetzmässigkeiten ein haufen von widersprüchen sind und das ihnen zu folgen soviel hiesse, wie jedem einzelnen seiner triebe fröhnen zu können, wobei eben jeder mensch eine wilde und unheimliche freiheit in sich verspürt. sie lässt ihm nur einen vorwärtsführenden weg: das dieses chaos auf eine ähnliche weise, wie das der atombahnen, schliesslich doch einen wert ergebe, und das man mit der genaueren kenntnis des zusammenhangs auch wieder einen sinn haben werde.

das ist ungefähr der sinn des übergangs vom individualismus zum kollektivistischen weltbild, wobei selbstverständlich keine rede davon ist, dass der wert der persönlichkeit aufhöre, sie wird nur eine genauere bewertung erhalten.

Villes Étrangères

Das Spiel von Schema und Variation / Nur dann, wenn wir aus tragischen Ereignissen etwas lernen wollen, müssen wir sie immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Sie mit einem Achselzucken und der Annahme "XY ist eben schlecht" zu beschreiben, wäre schlicht allzu einfach. Aber auch eine Kritik an Begriffen wie das Böse oder der Wahnsinn bringt uns nicht viel weiter. Arbeit bedeutet in den hier relevanten Zusammenhängen, aus dem Spielraum von Klischees und Phrasen Handlungsraum zu gestalten. Was wir hierfür brauchen, sind neue Worte, entstanden aus neuen Gedanken, mit deren Hilfe wir eine neue Geschichte erzählen und den alten Geschichten einen anderen Sprachraum ermöglichen. Doch wo können wir neue Gedanken und Worte für die Sprache einer neuen Geschichte finden, wenn nicht in den Überlieferungen unserer Kultur?

Ein Beispiel: Als Kind wusste ich nicht, wo meine Eltern herkamen - wo sie geboren wurden oder wer ihre Eltern waren. Wenn ich sie nach solchen Dingen fragte, sagten sie immer Dinge wie: "Solange ein Kind im Bauch der Mutter wohnt, steht neben ihm ein Engel mit einer brennenden Kerze und lehrt es alles, was es zu lernen gibt. Und in dem Moment, in dem das Kind geboren wird, löscht der Engel die Kerze aus und das Kind hat gelernt, zu vergessen und zu erinnern." Wenn ich sie fragte, ob sie schwarz oder weiss seien, sagten sie: "Wir sind hellhäutig", und wechselten das Thema. Sie, die Tochter eines orthodoxen Rabbiners und er, der Sohn eines westafrikanischen Ingenieurs, schickten meine Geschwister und mich ausnahmlos auf die Universität. Wir wurden unter anderem Ärzte, Professoren, Chemiker, Lehrer, Künstler, Anwälte und Händler - und dennoch erfuhren wir die Herkunft unserer Eltern erst, als wir erwachsen waren. Ich selbst brauchte fast zwanzig Jahre, um ihre aussergewöhnliche Geschichte auszugraben und meine Eltern erzählten sie eher, um mir einen Gefallen zu tun, als aus dem Bedürfnis heraus, in ihre eigene Vergangenheit zurückzukehren.

Im Gegensatz zu meinen Geschwistern fand ich meine Eltern etwas sonderbar. Ihnen lag nichts daran, sich mit den Nachbarn anzufreunden. Über ihre Vergangenheit sprachen sie grundsätzlich nicht und sie tranken Tee aus Gläsern. Sie konnten jiddisch (wie ich herausfand, als ich sie einmal heimlich belauschte) und sie lachten viel. Sie pflegten ein entschiedenes Misstrauen gegenüber Autoritäten, und unser Privatleben war ihnen heilig. Etwas, das sie, und meine ganze Familie für die anderen Menschen in unserer Umgebung noch sonderbarer machte. Nun gut, wie dem auch sei. Auch nach 1945 hörten sie die Worte die Juden unablässig immer wieder in scheinbar unzusammenhängenden Situationen. Für meine Familie hatte sich in dieser Hinsicht bis heute nichts geändert. Meines Wissens hatte ich selbst bis zu jenen unheilvollen Ereignissen noch nie einen Juden gesehen, aber gelegentlich hatte ich gehört, dass meine Freunde über die Juden sprachen. Einmal bekam ich mit, wie sie sich darüber unterhielten, dass man in dem Krankenhaus, in dem meine Schwester zur Welt kam, einen Arzt entlassen hatte, weil er Jude war. "So eine Schande", sagten meine Eltern, "er war so ein lieber Mensch und so ein guter Arzt." Ich schloss für mich daraus, dass uns keinerlei Gefahr drohe und wir weiterhin in Sicherheit seien.

Diese Haltung änderte sich ziemlich rasch, als meine Sinne allmählich die Ideologie betrachteten, die nicht nur von den Lehrern der Stadt in der wir lebten, an uns weitergegeben wurde. Um sicherzustellen, dass wir Kinder auch die richtigen Inhalte vermittelt bekamen, wurden sämtliche Lehrer entlassen, die als politisch unzuverlässig eingestuft wurden. Darunter fielen alle Lehrer jüdischer Abstammung, Lehrer, die in der kommunistischen oder sozialdemokratischen Partei waren, und auch Lehrer, die sich weigerten, den Eid auf die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung zu leisten. Vermutlich eines der ersten Opfer dieser Zeit war unsere Klassenlehrerin. Am Ende des zweiten Schuljahres teilte man uns lediglich mit, dass sie an eine andere Schule versetzt worden sei und ein anderer Lehrer, ihren Platz einnehmen würde. Ich habe nie wieder von ihr gehört und weiss nicht, ob man ihr erlaubte, ihre Lehrerkarriere woanders fortzusetzen. Aber das ist lange her.

Jedenfalls arbeitet die Berichterstattung durch die Medien zu diesen und vergleichbaren Dingen in der Regel durchgängig mit der Polarisierung wir, das heisst, die unschuldigen Opfer und die Seite des Rechts, und sie, sprich die Schuldigen, Täter und ihr Unrecht. Ohne eine gewisse Bereitschaft, diese spezielle Einteilung in wir und die anderen zu ändern, werden wir vermutlich im Morast unserer Vorurteile stecken bleiben oder - was noch schlimmer ist - in Gleichgültigkeit versinken.

Es gibt dazu folgenden Gedanken: um die Realität des Sarin-Anschlags zu begreifen, reicht eine rationale Untersuchung der Motive und Theorien seiner Urheber nicht aus. Ebenso unerlässlich ist eine parallele Auseinandersetzung mit unseren eigenen Motiven und Theorien. Könnte der Schlüssel zur Lösung des grausamen Rätsels, das sie uns nach wie vor aufgeben, eventuell sogar auf unserem Territorium vergraben sein. Wir werden das Phänomen Aum als etwas Unbegreifliches, fundamental Anderes, ausserhalb unserer Gesellschaft stehendes verdrängen, das man gerade noch mit einem Fernglas auf der anderen Seite eines Ozeans erkennen kann. Aber auch wenn uns der Gedanke unangenehm ist, werden wir nicht umhin kommen, sie in unser eigenes System zu integrieren. Weit grösser noch als die Gefahr, den Schlüssel zu den Ereignissen nicht bei uns selbst zu suchen, erscheint mir die Versuchung, diesen Anschlag aus einer Distanz zu betrachten, die seine Bedeutung auf ein mikroskopisches, mit blossem Auge nicht mehr erkennbares Ausmass reduziert.

Für Verdrängung und ausweichendes Verhalten gibt es natürlich immer einen bestimmten Grund. Ich selbst erinnere mich noch gut daran, dass Aum sich bei den Unterhauswahlen im Februar 1990 zur Wahl stellte. Asahara kandidierte für den Bezirk Shibuya, in dem ich damals wohnte, und seine Kampagne bestand aus einem ungewöhnlichen Spektakel. Tag für Tag fuhren kleine Lastwagen durch das viertel, aus deren Lautsprechern eine sonderbare Musik ertönte, während weissgewandete junge Männer und Frauen in überdimensionalen Asahara-Masken und Elefantenköpfen winkend und tanzend die Strassen vor meiner U-Bahn-Station säumten. Damals war ich zum ersten mal mit der Existenz von Aum konfrontiert und wandte mich beim Anblick ihrer Wahlpropaganda angewidert ab. Andere Passanten zeigten ähnliche Reaktionen und gingen eilig weiter, ohne die Aum-Anhänger zu beachten. Ich verspürte einen undefinierbaren Schauder, einen mir selbst nicht ganz erklärlichen Ekel, aber ich machte mir auch nicht die Mühe, darüber nachzudenken, woher dieser Abscheu kam. Aum hatte nichts mit mir zu tun. 80 bis 90 Prozent aller Leute würden wahrscheinlich das gleiche tun - vorbeigehen, wegsehen, nicht weiter darüber nachdenken, vergessen. Vermutlich haben die Intellektuellen der Weimarer Republik ganz ähnlich reagiert, als sie Hitler zum ersten Mal begegneten.

Im nachhinein kommt mir meine instinktive, fast überzogene Abwehr dennoch seltsam vor. Im Grunde sind die Strassen doch voll von Anhängern so genannter neuer Religionen, die um Mitglieder werben. Gleichwohl empfinden wir, zumindest gilt das für mich, ihnen gegenüber keinen derartigen Abscheu. Wir nehmen sie zur Kenntnis, und damit hat sich's. Die Tamburin schlagenden, "hare krishna" singenden Jugendlichen mit den rasierten Köpfen sind zwar ein sonderbarer Anblick, dennoch wende ich meine Blicke nicht angeekelt von ihnen ab. Warum tat ich es bei den Anhängern der Aum-Sekte? Was verstörte mich an ihnen so? Ich habe hierzu eine Hypothese. Das Aum-Phänomen verunsichert gerade deshalb, weil es eben doch etwas mit uns zu tun hat. Es ist wie ein Spiegel, aus dem uns unser verzerrtes Abbild entgegengrinst und uns sozusagen ein scharfes Messer an die Kehle setzt. Die hare-krishnas und andere neue Religionen können wir sofort, noch ehe sie richtig in unser Bewusstsein vorgedrungen sind, als bedeutungslos einordnen. Bei der Aum-Sekte war das aus irgendeinem Grund nicht der Fall, und weil ihre Gegenwart (ihr Auftreten, ihr Tanz, ihr Gesang) aktiv und bewusst verdrängt werden musste, verunsicherte sie uns so sehr. Psychologisch gesehen, ich werde die Psychologie nur dieses mal bemühen, sehen sie es mir also nach, verweisen Bilder, die in uns ein starkes psychisches Unbehagen hervorrufen, in Wirklichkeit häufig auf eigene Fehler und Schwächen. Vielleicht würde das meine spontane Abneigung vor dem Bahnhof erklären. Natürlich behaupte ich nicht, dass sie oder ich unter Umständen auch der Aum-Sekte beigetreten wären und Sarin in der U-Bahn freigesetzt hätten. Das wäre unrealistisch und zu weit hergeholt. Ich will damit nur sagen, dass etwas von Aum auch in uns existieren muss, um eine so bewusste Ablehnung zu provozieren. Vereinfacht gesprochen, wären sie dann ein verzerrtes Spiegelbild von uns. Nun ist ein Spiegelbild natürlich stets unscharf und schief. Konvex und konkav, richtig und falsch, Licht und Schatten tauschen die Plätze. Doch wenn man das Unscharfe und Verzerrte beiseite lässt, haben die beiden Bilder grosse Ähnlichkeit und passen teilweise genau aufeinander. Deshalb vermeiden wir es - bewusst oder unbewusst -, dieses Spiegelbild genauer zu betrachten, und sehen lieber über die Unstimmigkeiten hinweg. Wir verbannen die Schatten in ein unterirdisches Reich in unserem Inneren und tragen sie dort mit uns herum.

Interessanterweise entspricht die Vorgehensweise des sogenannten Una-Bombers fast genau derjenigen der Aum-Sekte. Zum Beispiel schickte Aum eine Paketbombe ins Tokyoter Rathaus. Theodore Kaczynskis Ideen sind Aums Ideologie sogar noch enger verwandt als seine Methoden und in ihren Grundzügen ist Kaczynskis Argumentation auch nicht falsch. Viele Segmente des gesellschaftlichen Systems zielen tatsächlich darauf ab, individuelle Autonomie zu verhindern und viele Menschen werden von ihrer Umgebung daran gehindert, ein freies Leben zu führen. Aus der Perspektive der Aum-Anhänger betrachtet, war es tatsächlich so, dass sie, als sie eine gewisse Autonomie zu behaupten versuchten, vom Staat als gegen die Gesellschaft gerichtete Bewegung und auszumerzende Krankheit klassifiziert wurden. Ihre zunehmend antisoziale Haltung war zum Teil eine Folge davon. Dennoch hat Kaczynski - wissentlich oder unwissentlich - einen entscheidenden Aspekt übersehen: Autonomie kann nur im Wechselspiel mit gesellschaftlicher Eingebundenheit entstehen. Das eine existiert nicht ohne das andere. Setzt man einen Säugling allein auf einer Insel aus, erwächst für ihn daraus keine Autonomie. Letztlich stehen die beiden Zustände in einer konstanten Wechselbeziehung, die unauflöslich ist wie die von Licht und Schatten. Jeder Mensch sieht sich zunächst mit der Aufgabe konfrontiert, experimentell seinen Platz als Individuum in der Welt zu entdecken.

Ich habe mit dem Sammeln des Materials für dieses Buch neun Monate nach dem Anschlag begonnen und dann mehr als ein Jahr daran gearbeitet. Das heisst, zum Zeitpunkt der Interviews war schon eine gewisse Zeit vergangen, in der sich die Geschichte "abgekühlt" hatte. Da es sich um eine sehr tiefgehende Erfahrung handelte, waren die Erinnerungen meiner Gesprächspartner noch frisch. Viele von ihnen hatten von ihren Erlebnissen immer wieder berichtet. Einige hingegen hatten seither mit kaum jemandem über den Anschlag gesprochen, oder sie hatten gewisse Einzelheiten nie erzählt. Dennoch hatten alle die Ereignisse innerlich wieder und wieder durchdacht und sie auf diese Weise objektiviert. Daher waren die meisten Berichte sehr realistisch und plastisch, auch wenn sie Erinnerungen bleiben. Nach der Definition eines Psychoanalytikers sind die Erinnerungen eines Menschen nichts weiter als die persönliche Deutung spezifischer Ereignisse. Zum Beispiel lässt sich eine Erfahrung leichter verarbeiten, wenn sie durch den Gedächtnisapparat gefiltert wurde. Dabei werden unerwünschte Teile einfach ausgesondert. Die Reihenfolge des Geschehens kann vertauscht und Unstimmiges stimmig gemacht werden. Die eigenen Erinnerungen vermischen sich mit denen anderer und werden nötigenfalls ausgetauscht. All das geschieht ganz natürlich und unbewusst. Einfach ausgedrückt: die Erinnerung an unsere Erlebnisse wird in eine erzählerische Form gebracht. Bei diesem Prozess handelt es sich mehr oder weniger um eine natürliche Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins, die zum Beispiel von Schriftstellern bewusst und professionell genutzt wird. Auch wenn die Wirklichkeit des Erzählten etwas von der Wirklichkeit des Geschehenen abweicht, ist die Geschichte deshalb nicht gelogen, sondern immer noch unverkennbar Wahrheit, wenn auch in anderer Form.

Beim Sammeln meines Materials habe ich mich prinzipiell bemüht, die Aussagen jeder Person innerhalb des Kontexts ihrer Geschichte für wahr zu erachten; das ist immer noch meine Überzeugung. Obwohl die Geschichten von den Personen, die gleichzeitig das gleiche erlebt haben, häufig in Einzelheiten voneinander abweichen, werden sie hier mit allen Widersprüchen präsentiert. Zudem bin ich ohnehin der Ansicht, dass diese Abweichungen und Widersprüche selbst etwas besagen. In unserer facettenreichen Welt sagt das Unstimmige häufig mehr aus als das Stimmige.

/ mixed sources.

Du Tourisme

der kunstreisende, wie sie ihn nannten, war ein dozent, der mit der schmetterlingshaut und dem botanisiertrommelgeist des strebenden kunsthistorikers aus italienischen städten kam. er hatte hier station gemacht, um sich vor der rückkehr einige tage zu erholen und sein material zu ordnen. da sie die einzigen gäste waren, stellte er sich schon am ersten tag den geschwistern vor, man sprach nach den mahlzeiten, oder wenn man sich in der nähe des hauses traf, ein wenig miteinander, und es war nicht zu leugnen, dass dieser mann, obgleich sie über ihn lachte, in gewissen augenblicken eine willkommene entspannung vermittelte.

er war sehr davon überzeugt, dass er als mann und gelehrter etwas bedeute, und machte ihr von der ersten begegnung an, nachdem er erfahren hatte, dass das paar sich nicht auf einer hochzeitsreise befände, mit grosser bestimmtheit den hof. er sagte ihr: "sie ähneln der schönen ... auf dem bilde von ... und alle frauen mit diesem ausdruck, der sich im stirnhaar und in den kleiderfalten wiederholt, haben die eigenschaft ... ."

als sie es ihrem bruder erzählen wollte, hatte sie die details aus dieser unterhaltung schon wieder vergessen, aber es war angenehm wie der feste druck eines masseurs, wenn ein fremder mensch weiss, was man ist, während man sich eben noch so aufgelöst wusste, dass man sich kaum von dem schweigen des mittags unterscheiden konnte. dieser kunstreisende sagte: "frauen sind dazu da, uns träumen zu lassen; sie sind eine list der natur zur befruchtung des männlichen geistes." er schillerte wohlgefällig auf sein paradoxon, welches den sinn der befruchtung umkehrte. sie erwiderte: "es bestehen aber immerhin unterschiede in der art dieser träume!" "ich habe herausgefunden", sagte der kunsthistoriker, "dass es zwei arten von menschen gibt und im lauf der geschichte immer wieder gegeben hat. ich nenne sie die statischen und die dynamischen. wenn sie wollen, die kaiserlichen und die faustischen. die statiker können ein glück als gegenwärtig empfinden. sie sind irgendwie durch ein gleichgewicht charakterisiert. was sie getan haben, und was sie tun werden, greift durch das, was sie eben tun, ineinander über, ist harmonisiert und hat eine gestalt wie ein bild oder eine melodie. hat gewissermassen eine zweite dimension, leuchtet in jedem augenblick als fläche. der pabst zum beispiel, oder der dalai lama; es ist einfach undenkbar, dass sie etwas täten, was nicht in den rahmen ihrer bedeutung eingespannt wäre. dagegen die dynamischen: die sich immer losreissen, vor und zurück bloss blickenden, aus sich heraus rollenden, die unempfindlichen menschen mit aufgaben, unersättlichen, drängenden, glücklosen, - welche die statiker immer wieder überwinden, um die weltgeschichte in gang zu halten."

mit einem wort: er liess durchblicken, dass er wohl beide in sich zu tragen vermöge. "sagen sie", fragte sie, als ob er ganz ernst wäre, "sind die dynamiker nicht auch die, welche in der liebe nichts zu fühlen scheinen, weil sie entweder schon in der phantasie gelebt haben oder erst das wieder entglittene lieben werden? man könnte doch auch das behaupten?" "ganz richtig!" sagte der dozent. "sie sind unmoralisch und ein träumer", erwiderte sie. "diese menschen, welche den rechten punkt zwischen vernunft und vergangenheit niemals finden können - es wird ihnen zum kotzen!" "nun, das möchte ich nicht behaupten", entgegnete er. "doch, doch. sie können verrückt gute oder böse taten begehen, weil ihnen das gegenwärtige nichts bedeutet."

darauf wusste der kunstgelehrte nicht recht zu erwidern und fand, dass sie ihn nicht verstand.