14.02.08

Villes Étrangères

Das Spiel von Schema und Variation / Nur dann, wenn wir aus tragischen Ereignissen etwas lernen wollen, müssen wir sie immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Sie mit einem Achselzucken und der Annahme "XY ist eben schlecht" zu beschreiben, wäre schlicht allzu einfach. Aber auch eine Kritik an Begriffen wie das Böse oder der Wahnsinn bringt uns nicht viel weiter. Arbeit bedeutet in den hier relevanten Zusammenhängen, aus dem Spielraum von Klischees und Phrasen Handlungsraum zu gestalten. Was wir hierfür brauchen, sind neue Worte, entstanden aus neuen Gedanken, mit deren Hilfe wir eine neue Geschichte erzählen und den alten Geschichten einen anderen Sprachraum ermöglichen. Doch wo können wir neue Gedanken und Worte für die Sprache einer neuen Geschichte finden, wenn nicht in den Überlieferungen unserer Kultur?

Ein Beispiel: Als Kind wusste ich nicht, wo meine Eltern herkamen - wo sie geboren wurden oder wer ihre Eltern waren. Wenn ich sie nach solchen Dingen fragte, sagten sie immer Dinge wie: "Solange ein Kind im Bauch der Mutter wohnt, steht neben ihm ein Engel mit einer brennenden Kerze und lehrt es alles, was es zu lernen gibt. Und in dem Moment, in dem das Kind geboren wird, löscht der Engel die Kerze aus und das Kind hat gelernt, zu vergessen und zu erinnern." Wenn ich sie fragte, ob sie schwarz oder weiss seien, sagten sie: "Wir sind hellhäutig", und wechselten das Thema. Sie, die Tochter eines orthodoxen Rabbiners und er, der Sohn eines westafrikanischen Ingenieurs, schickten meine Geschwister und mich ausnahmlos auf die Universität. Wir wurden unter anderem Ärzte, Professoren, Chemiker, Lehrer, Künstler, Anwälte und Händler - und dennoch erfuhren wir die Herkunft unserer Eltern erst, als wir erwachsen waren. Ich selbst brauchte fast zwanzig Jahre, um ihre aussergewöhnliche Geschichte auszugraben und meine Eltern erzählten sie eher, um mir einen Gefallen zu tun, als aus dem Bedürfnis heraus, in ihre eigene Vergangenheit zurückzukehren.

Im Gegensatz zu meinen Geschwistern fand ich meine Eltern etwas sonderbar. Ihnen lag nichts daran, sich mit den Nachbarn anzufreunden. Über ihre Vergangenheit sprachen sie grundsätzlich nicht und sie tranken Tee aus Gläsern. Sie konnten jiddisch (wie ich herausfand, als ich sie einmal heimlich belauschte) und sie lachten viel. Sie pflegten ein entschiedenes Misstrauen gegenüber Autoritäten, und unser Privatleben war ihnen heilig. Etwas, das sie, und meine ganze Familie für die anderen Menschen in unserer Umgebung noch sonderbarer machte. Nun gut, wie dem auch sei. Auch nach 1945 hörten sie die Worte die Juden unablässig immer wieder in scheinbar unzusammenhängenden Situationen. Für meine Familie hatte sich in dieser Hinsicht bis heute nichts geändert. Meines Wissens hatte ich selbst bis zu jenen unheilvollen Ereignissen noch nie einen Juden gesehen, aber gelegentlich hatte ich gehört, dass meine Freunde über die Juden sprachen. Einmal bekam ich mit, wie sie sich darüber unterhielten, dass man in dem Krankenhaus, in dem meine Schwester zur Welt kam, einen Arzt entlassen hatte, weil er Jude war. "So eine Schande", sagten meine Eltern, "er war so ein lieber Mensch und so ein guter Arzt." Ich schloss für mich daraus, dass uns keinerlei Gefahr drohe und wir weiterhin in Sicherheit seien.

Diese Haltung änderte sich ziemlich rasch, als meine Sinne allmählich die Ideologie betrachteten, die nicht nur von den Lehrern der Stadt in der wir lebten, an uns weitergegeben wurde. Um sicherzustellen, dass wir Kinder auch die richtigen Inhalte vermittelt bekamen, wurden sämtliche Lehrer entlassen, die als politisch unzuverlässig eingestuft wurden. Darunter fielen alle Lehrer jüdischer Abstammung, Lehrer, die in der kommunistischen oder sozialdemokratischen Partei waren, und auch Lehrer, die sich weigerten, den Eid auf die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung zu leisten. Vermutlich eines der ersten Opfer dieser Zeit war unsere Klassenlehrerin. Am Ende des zweiten Schuljahres teilte man uns lediglich mit, dass sie an eine andere Schule versetzt worden sei und ein anderer Lehrer, ihren Platz einnehmen würde. Ich habe nie wieder von ihr gehört und weiss nicht, ob man ihr erlaubte, ihre Lehrerkarriere woanders fortzusetzen. Aber das ist lange her.

Jedenfalls arbeitet die Berichterstattung durch die Medien zu diesen und vergleichbaren Dingen in der Regel durchgängig mit der Polarisierung wir, das heisst, die unschuldigen Opfer und die Seite des Rechts, und sie, sprich die Schuldigen, Täter und ihr Unrecht. Ohne eine gewisse Bereitschaft, diese spezielle Einteilung in wir und die anderen zu ändern, werden wir vermutlich im Morast unserer Vorurteile stecken bleiben oder - was noch schlimmer ist - in Gleichgültigkeit versinken.

Es gibt dazu folgenden Gedanken: um die Realität des Sarin-Anschlags zu begreifen, reicht eine rationale Untersuchung der Motive und Theorien seiner Urheber nicht aus. Ebenso unerlässlich ist eine parallele Auseinandersetzung mit unseren eigenen Motiven und Theorien. Könnte der Schlüssel zur Lösung des grausamen Rätsels, das sie uns nach wie vor aufgeben, eventuell sogar auf unserem Territorium vergraben sein. Wir werden das Phänomen Aum als etwas Unbegreifliches, fundamental Anderes, ausserhalb unserer Gesellschaft stehendes verdrängen, das man gerade noch mit einem Fernglas auf der anderen Seite eines Ozeans erkennen kann. Aber auch wenn uns der Gedanke unangenehm ist, werden wir nicht umhin kommen, sie in unser eigenes System zu integrieren. Weit grösser noch als die Gefahr, den Schlüssel zu den Ereignissen nicht bei uns selbst zu suchen, erscheint mir die Versuchung, diesen Anschlag aus einer Distanz zu betrachten, die seine Bedeutung auf ein mikroskopisches, mit blossem Auge nicht mehr erkennbares Ausmass reduziert.

Für Verdrängung und ausweichendes Verhalten gibt es natürlich immer einen bestimmten Grund. Ich selbst erinnere mich noch gut daran, dass Aum sich bei den Unterhauswahlen im Februar 1990 zur Wahl stellte. Asahara kandidierte für den Bezirk Shibuya, in dem ich damals wohnte, und seine Kampagne bestand aus einem ungewöhnlichen Spektakel. Tag für Tag fuhren kleine Lastwagen durch das viertel, aus deren Lautsprechern eine sonderbare Musik ertönte, während weissgewandete junge Männer und Frauen in überdimensionalen Asahara-Masken und Elefantenköpfen winkend und tanzend die Strassen vor meiner U-Bahn-Station säumten. Damals war ich zum ersten mal mit der Existenz von Aum konfrontiert und wandte mich beim Anblick ihrer Wahlpropaganda angewidert ab. Andere Passanten zeigten ähnliche Reaktionen und gingen eilig weiter, ohne die Aum-Anhänger zu beachten. Ich verspürte einen undefinierbaren Schauder, einen mir selbst nicht ganz erklärlichen Ekel, aber ich machte mir auch nicht die Mühe, darüber nachzudenken, woher dieser Abscheu kam. Aum hatte nichts mit mir zu tun. 80 bis 90 Prozent aller Leute würden wahrscheinlich das gleiche tun - vorbeigehen, wegsehen, nicht weiter darüber nachdenken, vergessen. Vermutlich haben die Intellektuellen der Weimarer Republik ganz ähnlich reagiert, als sie Hitler zum ersten Mal begegneten.

Im nachhinein kommt mir meine instinktive, fast überzogene Abwehr dennoch seltsam vor. Im Grunde sind die Strassen doch voll von Anhängern so genannter neuer Religionen, die um Mitglieder werben. Gleichwohl empfinden wir, zumindest gilt das für mich, ihnen gegenüber keinen derartigen Abscheu. Wir nehmen sie zur Kenntnis, und damit hat sich's. Die Tamburin schlagenden, "hare krishna" singenden Jugendlichen mit den rasierten Köpfen sind zwar ein sonderbarer Anblick, dennoch wende ich meine Blicke nicht angeekelt von ihnen ab. Warum tat ich es bei den Anhängern der Aum-Sekte? Was verstörte mich an ihnen so? Ich habe hierzu eine Hypothese. Das Aum-Phänomen verunsichert gerade deshalb, weil es eben doch etwas mit uns zu tun hat. Es ist wie ein Spiegel, aus dem uns unser verzerrtes Abbild entgegengrinst und uns sozusagen ein scharfes Messer an die Kehle setzt. Die hare-krishnas und andere neue Religionen können wir sofort, noch ehe sie richtig in unser Bewusstsein vorgedrungen sind, als bedeutungslos einordnen. Bei der Aum-Sekte war das aus irgendeinem Grund nicht der Fall, und weil ihre Gegenwart (ihr Auftreten, ihr Tanz, ihr Gesang) aktiv und bewusst verdrängt werden musste, verunsicherte sie uns so sehr. Psychologisch gesehen, ich werde die Psychologie nur dieses mal bemühen, sehen sie es mir also nach, verweisen Bilder, die in uns ein starkes psychisches Unbehagen hervorrufen, in Wirklichkeit häufig auf eigene Fehler und Schwächen. Vielleicht würde das meine spontane Abneigung vor dem Bahnhof erklären. Natürlich behaupte ich nicht, dass sie oder ich unter Umständen auch der Aum-Sekte beigetreten wären und Sarin in der U-Bahn freigesetzt hätten. Das wäre unrealistisch und zu weit hergeholt. Ich will damit nur sagen, dass etwas von Aum auch in uns existieren muss, um eine so bewusste Ablehnung zu provozieren. Vereinfacht gesprochen, wären sie dann ein verzerrtes Spiegelbild von uns. Nun ist ein Spiegelbild natürlich stets unscharf und schief. Konvex und konkav, richtig und falsch, Licht und Schatten tauschen die Plätze. Doch wenn man das Unscharfe und Verzerrte beiseite lässt, haben die beiden Bilder grosse Ähnlichkeit und passen teilweise genau aufeinander. Deshalb vermeiden wir es - bewusst oder unbewusst -, dieses Spiegelbild genauer zu betrachten, und sehen lieber über die Unstimmigkeiten hinweg. Wir verbannen die Schatten in ein unterirdisches Reich in unserem Inneren und tragen sie dort mit uns herum.

Interessanterweise entspricht die Vorgehensweise des sogenannten Una-Bombers fast genau derjenigen der Aum-Sekte. Zum Beispiel schickte Aum eine Paketbombe ins Tokyoter Rathaus. Theodore Kaczynskis Ideen sind Aums Ideologie sogar noch enger verwandt als seine Methoden und in ihren Grundzügen ist Kaczynskis Argumentation auch nicht falsch. Viele Segmente des gesellschaftlichen Systems zielen tatsächlich darauf ab, individuelle Autonomie zu verhindern und viele Menschen werden von ihrer Umgebung daran gehindert, ein freies Leben zu führen. Aus der Perspektive der Aum-Anhänger betrachtet, war es tatsächlich so, dass sie, als sie eine gewisse Autonomie zu behaupten versuchten, vom Staat als gegen die Gesellschaft gerichtete Bewegung und auszumerzende Krankheit klassifiziert wurden. Ihre zunehmend antisoziale Haltung war zum Teil eine Folge davon. Dennoch hat Kaczynski - wissentlich oder unwissentlich - einen entscheidenden Aspekt übersehen: Autonomie kann nur im Wechselspiel mit gesellschaftlicher Eingebundenheit entstehen. Das eine existiert nicht ohne das andere. Setzt man einen Säugling allein auf einer Insel aus, erwächst für ihn daraus keine Autonomie. Letztlich stehen die beiden Zustände in einer konstanten Wechselbeziehung, die unauflöslich ist wie die von Licht und Schatten. Jeder Mensch sieht sich zunächst mit der Aufgabe konfrontiert, experimentell seinen Platz als Individuum in der Welt zu entdecken.

Ich habe mit dem Sammeln des Materials für dieses Buch neun Monate nach dem Anschlag begonnen und dann mehr als ein Jahr daran gearbeitet. Das heisst, zum Zeitpunkt der Interviews war schon eine gewisse Zeit vergangen, in der sich die Geschichte "abgekühlt" hatte. Da es sich um eine sehr tiefgehende Erfahrung handelte, waren die Erinnerungen meiner Gesprächspartner noch frisch. Viele von ihnen hatten von ihren Erlebnissen immer wieder berichtet. Einige hingegen hatten seither mit kaum jemandem über den Anschlag gesprochen, oder sie hatten gewisse Einzelheiten nie erzählt. Dennoch hatten alle die Ereignisse innerlich wieder und wieder durchdacht und sie auf diese Weise objektiviert. Daher waren die meisten Berichte sehr realistisch und plastisch, auch wenn sie Erinnerungen bleiben. Nach der Definition eines Psychoanalytikers sind die Erinnerungen eines Menschen nichts weiter als die persönliche Deutung spezifischer Ereignisse. Zum Beispiel lässt sich eine Erfahrung leichter verarbeiten, wenn sie durch den Gedächtnisapparat gefiltert wurde. Dabei werden unerwünschte Teile einfach ausgesondert. Die Reihenfolge des Geschehens kann vertauscht und Unstimmiges stimmig gemacht werden. Die eigenen Erinnerungen vermischen sich mit denen anderer und werden nötigenfalls ausgetauscht. All das geschieht ganz natürlich und unbewusst. Einfach ausgedrückt: die Erinnerung an unsere Erlebnisse wird in eine erzählerische Form gebracht. Bei diesem Prozess handelt es sich mehr oder weniger um eine natürliche Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins, die zum Beispiel von Schriftstellern bewusst und professionell genutzt wird. Auch wenn die Wirklichkeit des Erzählten etwas von der Wirklichkeit des Geschehenen abweicht, ist die Geschichte deshalb nicht gelogen, sondern immer noch unverkennbar Wahrheit, wenn auch in anderer Form.

Beim Sammeln meines Materials habe ich mich prinzipiell bemüht, die Aussagen jeder Person innerhalb des Kontexts ihrer Geschichte für wahr zu erachten; das ist immer noch meine Überzeugung. Obwohl die Geschichten von den Personen, die gleichzeitig das gleiche erlebt haben, häufig in Einzelheiten voneinander abweichen, werden sie hier mit allen Widersprüchen präsentiert. Zudem bin ich ohnehin der Ansicht, dass diese Abweichungen und Widersprüche selbst etwas besagen. In unserer facettenreichen Welt sagt das Unstimmige häufig mehr aus als das Stimmige.

/ mixed sources.

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